GGG, Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie in Berlin



Artikel des Monats (Juli 2017)

Glazener CM et al. (PROSPECT study group).
Mesh, graft, or standard repair for women having primary transvaginal anterior or posterior compartment prolapse surgery: two parallel-group, multicentre, randomised, controlled trials (PROSPECT).
Lancet. 2017 Jan 28;389(10067):381-392.




Einleitung

Der Einsatz vaginaler Netze in der Deszensuschirurgie wird sehr kontrovers diskutiert, FDA-Warnungen der Jahre 2009 und 2011 haben diese Diskussion verursacht. Vorhandene Studien sind oft weder prospektiv, noch randomisiert, kleine Fallzahlen lassen keine allgemeinen Schlussfolgerungen zu.

Methode

Im Rahmen einer multizentrischen, randomisierten Studie, unter Einbeziehung von 35 Zentren und 65 Operateuren, wurde die transvaginale Rekonstruktion des anterioren bzw. posterioren Kompartiments in der einen Gruppe durch Faszienrekonstruktion vergleichend mit der Polypropylenenetz-Interposition untersucht. Im zweiten Studienarm wurde die Faszienrekonstruktion mit der Interposition von biologischen Interponaten (azelluläre Kollagenmatrix bzw. Dünndarmsubmukosa von Schweinen, Knochenhaut) verglichen. Jeder Operateur durfte selbst entscheiden, welche Technik er benutzt. Im 1-Jahres-Verlauf erfolgte die anatomische Bewertung unter Nutzung des Pelvic Organ Prolapse Quantification system (POP-Q), nach 6, 12 und 24 Monaten erfolgte die Fragebogenerfassung der Lebensqualität (VAS, EQ-5D-3L) und Prolapsbeschwerdesymptomatik (Pelvic Organ Prolapse Symptom Score, POP-SS).

Ergebnisse

865 Frauen (430 Faszienrekonstruktionen, 435 Polypropylenenetze) wurden für die „Mesh“-Gruppe und 735 Frauen (367 Faszienrekonstruktionen, 368 biologische Interponate) für die „Graft“-Gruppe rekrutiert. Im 1-Jahresverlauf zeigten sich in den jeweiligen Gruppen keine signifikanten Unterschiede bzgl. des POP-SS, EQ-5D-3L, der Lebensqualität bedingt durch Harn- bzw. Analinkontinenz und schwerer Dyspareunie. Die objektive Rezidivrate war in der „Mesh"- und „Graft“-Gruppe höher, als bei den Frauen mit Faszienrekonstruktion, ohne dass die Unterschiede statistisch signifikant waren. Innerhalb des 2-Jahresverlaufes unterzogen sich 6% der Frauen einer erneuten Senkungsoperation im voroperierten (2-3%) bzw. anderen Kompartiment (2-3%), ohne dass sich hier ein Unterschied zwischen den Gruppen zeigte, was gleichermaßen für Harninkontinenzoperationen (1 bzw. 2%) im Beobachtungszeitraum gilt. Die peri- und postoperative Komplikationsrate war, die Mesh-Komplikationen ausgenommen, in allen Gruppen unter 10%, ebenfalls ohne statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen. „Mesh“-Komplikationen wurden im ersten Jahr mit 7% und im zweiten Jahr mit 6% dokumentiert, davon waren 72 bzw. 76% asymptomatisch und in 64 bzw. 59% die Größe der Erosion > 1 cm2.

Interpretation

In der Primärsituation profitieren Frauen mit einem Deszensus im Rahmen der vaginalen Rekonstruktion nicht durch die Interposition von monofilamenten, makroporösen Polypropylenenetzen bzw. biologischen Netzen hinsichtlich der Lebensqualität, des Operationsergebnisses und der Komplikationen im 1-Jahresverlauf. Die Fragebogenanalyse im 2-Jahresverlauf kommt zum gleichen Ergebnis. Schließlich wurde aber bei jeder zehnten Patientin eine Netzkomplikation dokumentiert. Inwieweit die Frauen nach Netzinterposition im Langzeitverlauf durch ein stabileres anatomisches Ergebnis profitieren, aber unter Umständen auch durch vermehrte Netzkomplikationen belastet sind, muss sich noch zeigen.

Das Studienziel bestätigt die Empfehlung der AGUB und der Europäischen Union (Sientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks; SCENIHR; Juni 2015), dass es in der Regel nicht erforderlich ist, in der Primärsituation eine Netzinterposition durchzuführen. Die vaginale Netzinterposition ist nur in der Rezidivsituation bzw. dann, wenn der Operateur weiß, dass das Vorgehen ohne Netzinterposition zum Misserfolg führen wird, gerechtfertigt. Indikationen für die primäre vaginale Netzinterposition können der ausgeprägte Prolaps durch einen kombinierten zentralen und lateralen Defekt, der ein- bzw. beidseitige Levatorabriss bzw. der Wunsch nach Uteruserhalt trotz dessen Deszensus in der postmenopausalen, multimorbiden Situation sein. Diese Gründe sollten in der Aufklärung, dem Operationsbericht und in der Epikrise dokumentiert werden.

Der Studienarm zum Vergleich der Faszienrekonstruktion mit biologischen Netzstrukturen ist aus deutscher und auch anderer Länder Sicht ohne klinische Relevanz, da dieser Gewebeersatz schon seit Jahren nicht mehr empfohlen wird, in England aber noch großzügig zur Anwendung kommt.

Das Studiendesign ist pragmatisch, aufgrund der hohen Patientinnenzahl und Anzahl von Operateuren ist kaum ein Bias möglich. Da jeder Operateur mit den Netzstrukturen und Operationstechniken arbeiten durfte, mit denen er die beste Erfahrung gesammelt hatte, konnte die maximale Operationsqualität in die Studie einfließen. So kamen auch im Studienarm der Polypropylenenetze unterschiedliche Techniken zur Anwendung, standardisiert war nur die Netzqualität (Typ I nach Amid). Aufgrund der aktuellen Erfahrungen mit vaginalen Netzen sollten diese auch leichtgewichtig sein (< 25 g/m2), über eine apikale Fixation bds. am Lig. sacrospinale verfügen und jeweils über ein bis zwei Fixationspunkte an der seitlichen Beckenwand (in Höhe des Blasenhalses und ggf. in Höhe des Blasenbodens) verfügen.



Prof. Dr. med. Ralf Tunn

Chefarzt Klinik für Urogynäkologie
Koordinator Deutsches Beckenbodenzentrum
Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus
Hamburger Straße 5 - 11
10115 Berlin


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Aktualisierung: 04.07.2017